Lob und Kritik prägten den ersten Fachtag Inklusion des Kreises Euskirchen

Menschen mit Behinderung berichteten über ihre Probleme in den Bereichen Wohnen, Arbeiten, Gesundheitsfürsorge, Bildung, Freizeit und Mobilität – Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kreises Euskirchen tauschten sich mit Kooperationspartnern aus

Euskirchen – Bei Menschen mit Behinderung handelt es sich keineswegs um eine stabile Gruppe, die immer aus denselben Leuten besteht, sondern um eine Gruppierung, deren Grenzen prinzipiell offen sind, so dass jeder Mensch eines Tages dazugehören kann: „Die wenigsten Menschen haben von Geburt an eine Behinderung, der überwiegende Teil von ihnen gesellt sich erst später durch Unfall, Krankheit und Alter hinzu“, sagte Nicole Tobay vom Kommunalen Bildungs- und Integrationszentrum (KoBIz) des Kreises Euskirchen. Es könne also jeden treffen. Dies sei ein Grund mehr, sich auch als Mensch ohne Behinderung um Inklusion im Alltag zu bemühen. Um dieses Thema voranzubringen, hatte Nicole Tobay einen Fachtag Inklusion ins Leben gerufen, der vorwiegend für die Mitarbeitenden der Kreisverwaltung gedacht war, die am Handlungskonzept Inklusion des Kreises mitwirken, um Teilhabe gelingend zu gestalten.

„Wir fassen den Begriff Inklusion hier im weitesten Sinne“, erklärte sie am Mittwochmorgen in den Räumlichkeiten der Lebenshilfe am Euskirchener Kirchplatz. Es gehe also nicht nur um Menschen mit Behinderung, sondern auch um Zuwanderer, ältere Menschen oder Langzeitarbeitslose. Damit die Veranstaltung sich nicht zu sehr im Theoretischen verlor, hatte Tobay neben einigen Kooperationspartnern, wie beispielsweise Vertretern der Lebenshilfe, der Nordeifel.Werkstätten oder des LVR, auch Menschen mit Behinderung eingeladen, die als „Lebendige Bibliothek“ bereit waren, öffentlich und vor wechselndem Publikum von ihren Problemen, aber auch von positiv erlebter Inklusion zu berichten.

Mona beispielsweise, die im CAP-Markt in Kuchenheim arbeitet, berichtete von ihrer schlechten Erfahrung bei der Wohnungssuche. „Ich habe viel Ablehnung erfahren und immer nur Absagen bekommen“, erzählte sie. Nach dem Tod ihrer Eltern sei die Wohnung für sie allein zu groß gewesen. „Ich wollte in keine Einrichtung für betreutes Wohnen einziehen, also habe ich mich auf die Suche nach einer kleineren Wohnung gemacht.“ Doch die meisten Vermieter wollten sie nicht. „Ich gehe arbeiten, bin sehr ruhig, und man sieht und hört mich kaum“, berichtete sie, aber dennoch habe man ihr keine Chance gegeben. Ihre Erfahrung war allerdings schon zehn Jahre alt. Irgendwann habe es doch geklappt und seither sei sie sehr glücklich mit ihrer Wohnsituation.

Auch Katja aus dem NE.W-Standort in Ülpenich konnte von den Problemen bei der Wohnungssuche ein Lied singen. „Dazu kommt noch, dass die Wohnungen für Menschen, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind, nicht größer als 50 Quadratmeter sein dürfen“, berichtete sie. Gleichzeitig dürfe die Miete für die Wohnungen den Mietpreisdeckel nicht übersteigen. Das schränke bei der Wohnungssuche weiter ein. „Wenn es schon eine Deckelung gibt, dann sollte es auch genügend Angebote geben“, sagte Christoph Werner, Geschäftsführer der NE.W,  der sich mit zwei weiteren NE.W-Mitarbeitenden den ganzen Vormittag Zeit genommen hatte, um sich die Probleme und Sorgen der Menschen mit Behinderung anzuhören. Doch Fakt sei, dass es diese Angebote nicht ausreichend gebe, konstatierte Werner. Katja berichtete daraufhin, dass sie es daher einmal mit einer Wohngemeinschaft versucht habe, da die Wohnung dann 15 Quadratmeter größer sein dürfte. Doch leider habe sie sich mit der Mitbewohnerin nicht verstanden. „Nur, weil zwei Menschen ein Handicap haben, müssen sie noch lange nicht zusammenpassen“, resümierte sie.

Glasfaserausbau schränkt Bewegungsfreiheit ein

Mit ihrem Leben rundum zufrieden zeigte sich Silvia, die bis zu ihrem Renteneintritt vor zwei Jahren am NE.W-Standort Zingsheim gearbeitet hatte. Sie wohnt seit fünf Jahren mit fünf weiteren Bewohnern in einem Haus der Lebenshilfe in Kall und berichtete begeistert von ihren zahlreichen Freizeitaktivitäten, an denen sie vor allem dank ihres Betreuers teilnehmen kann. Ob Oldienacht, Ferienpark, Stadtbummel oder einfach nur Snoozeln, die Rentnerin, die darüber hinaus gern backt, genießt das volle Freizeitprogramm. Ein Problem hat sie allerdings: In Kall ist der Glasfaserausbau zurzeit in vollem Gange. Die Straße vor ihrem Haus sei aufgerissen und nicht richtig wieder verschlossen worden, berichtete sie. Da sie stark sturzgefährdet sei, traue sie sich ohne Betreuer nicht mehr vor die Tür und verzichte daher auf ihre kleinen eigenständigen Runden durchs Viertel. Und auch der Stadtbummel in Euskirchen ist bis auf Weiteres gestrichen. Denn die Bahn fährt derzeit nicht, und im Bus gibt es meisten nur noch einen Stehplatz. „Da habe ich Angst, umzufallen“, sagte sie.

Der 19-jährige Umar aus dem QuBi.Eifel entpuppte sich als äußerst kreativer Kopf. „Ich frage mich immer, wie kann man das Leben der Leute besser machen“, sagte er und verblüffte durch eine ganze Reihe von Erfindungen, die er sich ausgedacht hatte. Dabei ging es vorwiegend darum, Menschen mit Behinderung mehr Mobilität zu ermöglichen. Heute habe jeder ein Navigationsgerät im Auto, das einem sage, wohin man fahren solle. Es sei aber auch wichtig ein Gerät zu haben, dass einem sage, „wie“ man zu fahren habe. Seine Idee: Verkehrsschilder könnten quasi in Sprache übersetzt werden, so dass ein Gerät einem mitteile: „Hier darfst Du nur 50 Stundenkilometer fahren! Gleich kommt eine Baustelle!“ Oder: „An der nächsten Kreuzung hast du Vorfahrt!“ Dadurch könnten mehr Menschen mit Einschränkungen, die beim Lesen der Schilder schnell überfordert seien, auf die Straße gebracht werden. Darüber hinaus müsste die Elektromobilität für Menschen mit Handicap angepasst werden. „Ich wünsche mir beispielsweise einen E-Rollstuhl, der leicht und faltbar sein müsste, mit ausbaubarem Akku, um ihn im Flugzeug mitzunehmen.“ 

22.750 Menschen mit Behinderung leben im Kreis Euskirchen

Insgesamt konnte Nicole Tobay am Ende des Vormittags eine ganze Reihe von Wünschen, aber auch positiven Entwicklungen notieren: Man wünschte sich im Bereich Verkehr eine bessere Verkehrsanbindung an Arbeitsstellen im ländlichen Bereich sowie mehr Zebrastreifen, lobte hingegen ausdrücklich das Taxi bzw. den Kleinbus „Mike“. Im Bereich Freizeit wünschte man sich vor allem, dass der Kreis und seine Kooperationspartner die Freizeitangebote bündeln und in einer gemeinsamen Broschüre veröffentlichten. Für den Bereich Arbeit hoffte man auf einen zuverlässigeren ÖPNV vor allem am Wochenende. Kritisiert wurden im Bereich Pflege und Gesundheit einige negative Erfahrungen mit der Ärzteschaft. 

Bevor Christina Hölbling, Leitung Berufliche Bildung bei den NE.W, das neue QuBi.Eifel in Mechernich vorstellte, das Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Beeinträchtigungen für den Arbeitsmarkt fit zu machen versucht, und Michael Schaafstall die Arbeit von NE.W Job präsentierte, ein Programm, das Menschen mit Handicap nach der Ausbildung im QuBi.Eifel in den allgemeinen Arbeitsmarkt integriert, hatte Katrin Schmalen vom Bildungszentrum noch einige interessante Daten und Fakten zusammengetragen.

Von den 200.000 Einwohnern des Kreises Euskirchen ist etwa jeder Zehnte irgendwann in seinem Leben von einer Behinderung betroffen. Derzeit liegt die Zahl bei 22.750. Ab Mitte 50 steigt altersbedingt die Wahrscheinlichkeit auf eine Behinderung kräftig an. 95 Prozent aller Behinderungen werden durch allgemeine Krankheiten bedingt. Die wenigsten Behinderungen sind angeboren. Jeder Sechste erhält noch während seines Arbeitslebens einen Behindertenausweis. 2023 arbeiteten 628 Menschen mit Handicap in den verarbeitenden Gewerben, 393 im öffentlichen Dienst und 372 im Gesundheits- und Sozialwesen. Von den 6520 Arbeitslosen in 2023 hatten 520 eine Behinderung. „Wir verzeichnen hier einen Höchststand, der auch zurzeit noch anhalten dürfte“, so Schmalen. Darüber hinaus seien nur 82 Prozent der Pflichtarbeitsplätze für Menschen mit Behinderung besetzt. Oder anders ausgedrückt: Sechs von zehn Arbeitgebern erfüllen die Quote nicht.

Eifeler Presse Agentur/epa